Mit Achtsamkeit den Alltagsstress besser bestehen


Mit Achtsamkeit den Alltagsstress besser bestehen

Achtsamkeit: So funktioniert das Training

Achtsamkeitstraining macht von sich reden. Doch viele Menschen haben falsche Erwartungen. Auf jeden Fall eignet es sich, um im Alltagsstress besser zu bestehen

Manchmal genügt eine Tüte getrockneter Rosinen, damit eine Gruppe von Menschen die Welt ein bisschen besser erkennen kann – auch wenn der Erkenntnisprozess einige Minuten dauert: Ein lichter Seminarraum in München-Pasing, weiß gekalkte Wände, Dielenboden. 15 Kursteilnehmer schauen auf die verschrumpelte, bräunlich-violette Rosine auf ihrer Hand. Die Irritation ist ihnen anzumerken: Was soll das jetzt?

„Es geht um eine bessere, achtsamere Wahrnehmung“, erklärt Trainerin Kirsten Wolff mit ruhiger Stimme. „Was sehen Sie? Was fühlen Sie? Was riechen Sie? Schauen Sie sich die Rosine ganz genau an, als ob Sie noch nie eine gesehen hätten!“ Die Teilnehmer schnuppern.

„Und jetzt legen Sie bitte die Rosine auf ihre Zunge. Nicht gleich kauen! Was schmecken Sie?“ Es dauert einige Zeit, alle Aromen zu erspüren, erst dann darf – ebenfalls ganz langsam und ausführlich – gekaut werden.

Stressredukion war das Ziel des Erfinders

Die große Rosinen-Erforschungs-Aktion ist eine beliebte Übung bei sogenannten MBSR-Trainings. Die Abkürzung steht für „Mindfulness Based Stress Reduction“, zu Deutsch: Stressreduktion durch Achtsamkeit. Der amerikanische Molekularbiologe Jon Kabat-Zinn von der University of Massachusetts entwickelte dieses achtwöchige Programm vor fast 40 Jahren. Es hat sich seitdem nicht mehr groß verändert. Das MBSR-Achtsamkeitstraining verbindet verschiedene Techniken des Yoga aus der buddhistischen Psychologie, der Meditation und ganz allgemein der Körperwahrnehmung – und soll nach Ansicht mancher Vertreter wahre Wunderdinge vollbringen.

Achtsamkeit soll Schmerzen lindern oder Depressionen

Immerhin, einigen Studien zufolge lindert ein MBSR-Training Schmerzen und Angst, manche Mediziner erhoffen sich Effekte bei Sucht und Fibromyalgie. Erst im April 2015 ergab eine große Studie im Medizinmagazin „Lancet“, dass eine verwandte achtsamkeitsbasierte kognitive Therapie (MBCT) ähnlich gut vor Rückfällen nach einer Depression schützt, wie es Medikamente tun.

Achtsamkeit ist inzwischen ein wesentlicher Baustein mehrerer moderner Behandlungskonzepte, zum Beispiel von Borderline-Patienten, die unter sehr schweren Persönlichkeitsstörungen leiden. „Achtsamkeitstherapien sind schon lange keine Esoterik mehr“, sagt darum der Psychologe Stefan Schmidt, der an den Universitäten Freiburg und Frankfurt a. d. Oder lehrt und forscht. „Sie werden zunehmend auch von Schulmedizinern anerkannt, insbesondere im amerikanischen Raum.“

Bestätigung der Wirkung bleibt abzuwarten

Es wird sich zeigen müssen, ob neue Studien solche Ergebnisse bestätigen. Menschen, die sich für das Konzept der Achtsamkeit interessieren, führt es ohnehin eher in die Irre, Achtsamkeit wie ein Medikament oder eine Psychotherapie zu betrachten. Arzneien und psychologische Behandlungen sollen etwas verändern. Anders Achtsamkeitstraining: „Es geht primär um Akzeptanz“, sagt Psychologe Schmidt. „Also um die Frage: Kann ich zum Beispiel mit chronischen Schmerzen leben und mich mit ihnen arrangieren – ohne dass sie verschwunden sind.“

Kern der Achtsamkeit: Akzeptanz

Das ist auch nach Ansicht von MBSR-Begründer Kabat-Zinn der Kern des Verfahrens, eben die „im Augenblick ruhende, nicht urteilende Aufmerksamkeit“. Egal ob diese Aufmerksamkeit den Eigenschaften einer Rosine oder einem eigenen inneren psychischen Zustand zugewandt ist. Das sei die entscheidende Einsicht, erläutert die Münchener MBSR-Trainerin Wolff. „Es bedeutet zum Beispiel beim Schmerz, dass man eben nicht versucht, ihn zu betäuben oder zu verdrängen, sondern das man ihn annimmt und sich bemüht, ihn möglichst gleichmütig von außen zu betrachten – auch wenn das nicht gerade angenehm ist.“

Ähnlich solle man mit negativen Emotionen umgehen, mit Stress, Trauer, Scham, Angst  oder Wut. Wolff verdeutlicht diese Haltung mit einer Metapher: „Versuchen Sie einen Ball unter Wasser zu drücken, und er wird mit größerer Wucht an die Oberfläche kommen. Mit Achtsamkeit können wir uns den Ball an der Wasseroberfläche betrachten. Dort kann er dann vielleicht sogar wegschwimmen.“
Das ist allerdings keine Herangehensweise, die man mühelos anwenden kann, nur weil man es sich vornimmt. Sie muss trainiert werden. Üblich sind acht, jeweils zweieinhalbstündige Sitzungen. Manche Krankenkassen bezuschussen solche Kurse als Präventionsmanahme, wenn sie ihren Vorgaben – etwa im Bezug auf die Trainer – entsprechen. Dabei erlernt man Übungen, die sich leicht zuhause nachvollziehen lassen, etwa mithilfe einer CD. Dazu zählt unter anderem klassische Atemmeditation.

Eine MBSR-Standardübung ist der sogenannte Bodyscan. Trainerin Wolff erklärt ihn den Teilnehmern ihres Kurses in München Pasing, die gerade mit geschlossenen Augen auf ihrer Matte am Boden liegen und ruhig atmen: „Wandert mit Eurer Aufmerksamkeit zu Eurem Fuß, wenn Gedanken kommen ist das ganz normal. Sobald Ihr das bemerkt, holt Eure Aufmerksamkeit wieder zurück zu Eurem Fuß.“ So durchwandern die Übenden in Gedanken nach und nach den ganzen Körper – sie „scannen“ ihn von den Füßen durch die Beine zum Becken, von den Händen über die Arme und Brustkorb bis zu Hals, Gesicht und Kopf. „Jeder Moment“ sagt Wolff, „in dem wir bemerken, dass unsere Gedanken abwandern, ist ein Moment der Achtsamkeit – spürt Ihr was?“

Die Spirale negativer Gedanken durchbrechen

„Wenn man lernt, die Gedankenspiralen möglichst früh zu unterbrechen und die Welt mit offenem Geist betrachtet, kann das heilend wirken“, erläutert Wolff. Sie berichtet von einer Patientin am Rand einer Depression, einer gestressten Leiterin einer Krankenhausstation, verheiratet mit einem suizidgefährdeten Mann und verantwortlich für ein pflegebedürftiges, behindertes Kind. Nach dem MBSR-Training sei sie  durch den Tierpark gegangen, und „nun sah sie die Schönheit der Blumen, die Augen der Tiere und fühlte sich wieder heiter und befreit – obwohl sich an ihrer Situation nichts geändert hatte“, erzählt Wolff.
Idealerweise kultiviert man eine solche achtsame Grundhaltung bereits in einem normalstressigen Leben. Sie eignet sich keineswegs nur für Menschen am Rande einer seelischen Krise. Achtsam leben heißt im Alltag zum Beispiel, weder Nahrungsmittel noch Information einfach zu verschlingen. Sondern: Sich jeden Augenblick des Lebens ohne Ungeduld auf das zu konzentrieren, was man gerade macht, sei es der Abwasch in der Küche oder der Blick auf den Sonnenuntergang im Urlaub.

Quelle Apotheken Umschau 20.07.2015

 

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